Gnade vor Recht

Gnade vor Recht klingt sehr altmodisch. Oder irgendwie juristisch. Man lässt Gnade vor Recht ergehen. Der Ausdruck ist mir heute Morgen unter der Dusche wieder eingefallen. Das kam so:

Vorgestern fand ich im Briefkasten einen Brief mit dem Vermerk An alle Haushalte. Aha. Stromanbieterwechsel? Neuer Handy-Provider? Oder zu was soll ich - und offenbar alle anderen im Haus - mich hinreißen lassen?

Pustekuchen. Der Brief kommt aus dem Nebenhaus. Vier MieterInnen haben unterzeichnet, die Namen leider unleserlich, also irgendwie anonym, aber immerhin: offenbar eine nicht ganz kleine, sehr einige Interessengruppe.

Im Betreff steht: Respekt vor der Privatsphäre. Okay. Ich kriege einen kleinen Schreck. Wer fühlt sich da aus welchem Grund in seiner Privatsphäre eingeschränkt? Durch wen? An alle Haushalte unseres Hauses? Das sind zur Zeit nur drei, soviel Auswahl ist da also nicht…

Hm. Mal weiterlesen. Also, aufgrund des guten Verhältnisses zwischen Haus A (sie) und Haus B (wir) sei ein Zaun zwischen den Grundstücken entfernt (ich nehme an: nicht erneuert, ist ja teuer) worden. Puh! Da habe ich hier noch nicht gewohnt, denke ich erleichtert. Alles klar. Worum geht’s also?

Die Mutter eines meiner Nachbarn ist in ihrer Mobilität stark eingeschränkt. Sie kann sich über weitere Strecken nur mit einem motorisierten Gefährt fortbewegen, so eine Mischung aus Rollstuhl und Schwalbe (nichts für ungut an alle, die darauf angewiesen sind - ich weiß einfach nicht, wie dieses Fahrzeug heißt, ist ja jetzt auch egal).

Long Story short: Wenn sie ihre Familie mit zwei Enkelchen besuchen möchte, kann sie auf normalem Wege nicht bis ans Haus heranfahren, da sie zwei Treppenstufen überwinden müsste, was mit ihrem Fortbewegungsmittel unmöglich ist. Der Weg über Nachbars Vorgarten (eine Rasenfläche, keine Stufen) funktioniert allerdings – und wurde von ihr auch schon benutzt. Ich gebe zu, das hat mich auch kurz befremdet, als ich es einmal gesehen habe (sowas geht ja in Deutschland gar nicht, ne). Andererseits dachte ich mir: Was soll sie machen?

Ob der Weg durch den Vorgarten vielleicht auch noch vom Rest der Familie genutzt wird oder wurde (Fahrräder, Kinderwagen, Abkürzung, keine Ahnung, was noch) weiß ich nicht. Man wohnt ja selbstgeschaffene Privilegien gerne schnell ein und findet dann gar nichts mehr dabei. Das ist aber, wie gesagt, nur hypothetisch: Ich weiß nicht, ob das so ist/war. Auch nicht, ob noch andere Nachbarn aus unserem Haus den Weg über den Vorgarten von Nebenan nehmen. Wir waren es jedenfalls nicht.

Ich könnte den Brief also einfach wegschmeißen und mir denken: Was soll’s. Mich betrifft das ja nicht. (So habe ich mich bis jetzt auch verhalten.) Aber irgendwie lässt mir die Sache keine Ruhe. Warum beschäftigt mich das so?

Ich habe dazu wirklich viele Gedanken (sorry, ist so meine Art). Einige will ich hier mal schildern:

  1. Ich bin angefasst. Durch den generalisierenden Verteiler werde ich mit angesprochen - habe mir aber gar nichts zu Schulden kommen lassen. Sowas hasse ich. Es ist ungerecht und irgendwie finde ich das Ganze – auch durch die Anonymität – persönlich beleidigend. Biiiiiiiig Trigger! Kann man denn nicht kurz mal miteinander reden? Uns trennen doch nur 10 Meter und ein Klingelschild voneinander. Tssss…

  2. Nächster Gedanke: Wenn sich tatsächlich vier Parteien im Nachbarhaus in ihrer Privatsphäre eingeschränkt fühlen, weil jemand durch den Vorgarten geht oder fährt, müssen sie alle den/die Übeltäter ja schon häufiger gesehen und als störend empfunden haben. Einen gemeinsamen Brief verfassen und ihn dann im Rundlauf unterzeichnen, für drei, vier Wohnungen ausdrucken, eintüten, Klebeetikett “An alle Haushalte” vorne drauf und einwerfen, das ist ja schon ein bisschen Aufwand. War es das wert? Ist die Nachbarschaft vielleicht doch nicht so gut, wenn man sowas nicht von Angesicht zu Angesicht ausräumen kann? Eins ist mal klar: Besser wird sie durch eine solche Aktion bestimmt nicht.

  3. Leider muss ich sagen, dass ich auch meine direkten Nachbarn nicht so richtig verstehen kann. Wenn es für die Mutter/Großmutter doch eine so immense Erleichterung bedeutet, einen Weg ohne Stufen zu nehmen, und ein solcher potenziell vorhanden ist, wenn man durch den Vorgarten der Nachbarn fahren dürfte – warum bittet man die betroffenen Mieter/Eigentümer (?) des Nebenhauses, die sich aus ihrer Sicht unter Umständen ja zu Recht gestört fühlen, weil sie das ungefragte Nutzen ihres Grundstücks als Grenzüberschreitung empfinden (was es streng genommen ja auch ist) – nicht einfach um Erlaubnis, indem man die Situation im Vorfeld erklärt und um Hilfe und Verständnis bittet? Wie oft kommt der Besuch der Großmutter vor? Vielleicht alle 10 Tage?

  4. Philosophisch betrachtet frage ich mich: Wirkt hier Paul Watzlawicks “Anleitung zum Unglücklichsein"? Ganz sicher. Und ja, jetzt komm ich wieder mit meiner Liebe zur Kommunikation. Weil es das Leben eben so viel leichter macht. Wenn alle mitspielen…

  5. Okay, abschließend finde ich eins aber wirklich sehr befremdlich und irgendwie auch tieftraurig: Bei der ganzen Aktion mit dem Brief, ist da bei den Ausführenden in keinem Moment mal ein Hauch Mitleid (und Anstand? Noch so ein antiquiertes Wort …) aufgekommen? Das Gefühl, dass man da vielleicht ein bisschen über das Ziel hinausschiesst?
    Wir wohnen hier in einer sehr privilegierten Gegend mit vielen älteren, aber auch jüngeren alleinlebenden Menschen. Wie steht es da mal mit ein bisschen Großzügigkeit einer gehbehinderten Person gegenüber, die sich – zugegeben – sicherlich in Bezug auf das Eigentum anderer unglücklich angestellt hat, indem sie nicht um Erlaubnis gefragt hat – darüber muss man sprechen und sich entschuldigen. Aber Hand aufs Herz, wem tut es wirklich weh, wenn sie vielleicht drei, vier Mal im Monat über den Rasen im Vorgarten direkt bis ans Haus ihrer Familie fährt, das sie anders nur sehr beschwerlich erreichen kann, wissend, dass damit auch ihr teures Vehikel, an dem sich zudem alle ihre Sachen befinden, dort sicher steht?

Ja, Gnade vor Recht ist ein antiquierter Begriff. Lässt man Gnade vor Recht ergehen, ist für Feigheit und Anonymität kein Platz. Menschliche Größe ist gefragt, Format, Freundlichkeit, Mitgefühl und ein Hauch Nächstenliebe, mit deren Hilfe man sich zumindest für einen kurzen Moment in die Situation des Gegenübers versetzt, seine Privatsphäre respektiert, spätestens in dem Moment, in dem man ein solches Schreiben in den Briefkästen seiner Nachbarn versenkt, nicht ahnend oder berücksichtigend, was man damit beim anderen unter Umständen anrichtet.

Wo klingeln Sie, wenn Sie mal Hilfe brauchen?

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Johann Andreas Fürst

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