LinkedIn, wir müssen reden

Traditionelles Online-Marketing seit 1895. Dieser Claim, mit dem mich ein Unternehmen auf LinkedIn mehrfach – und auf völlig identische Weise – angefunkt hat, ist an sich schon eine Meisterleistung. Ich frage mich insgeheim: Sollte ich hier auf die Gründerväter und -mütter des Online-Marketings gestoßen sein (oder sie vielmehr auf mich)? Genial!

Ich bekomme freundliche Kontaktanfragen und Nachrichten mit immer dem gleichen Text: Arbeiten Sie auch mit Gruppen? Äh, ja, natürlich. Ich mache Kommunikation, im Idealfall ist meine kleinste Gruppe zwei Personen stark. Aber ich zwinge mich erstmal, mich über die vermeintliche Anfrage, das vielleicht ja sogar ernstgemeinte Interesse an meiner Arbeit, zu freuen (trotz des dubiosen Claims. Kann ja nicht jeder gut texten und so), rufe also meine inneren Wachhunde zurück, die anschlagen, weil es sich hier wahrscheinlich wieder mal nur um eine Fake-Anfrage handelt (man weiß es nicht), und sage qualifiziert und Akquise-orientiert erstmal: Ja, klar!

Daraufhin bekomme ich die zweite Nachricht von Sofia (Anm. der Red.: Name geändert) und später auch nochmal von Lennard (Anm. der Red.: Name geändert), übrigens auch wieder in identischer Ausführung: Ich seie doch sicherlich am Ausbau meiner Kundenkontakte interessiert, oder? Man sei da in der Entwicklung eines völlig neues Produktes, das original und individuell auf mich, mein Unternehmen und meine Kunden zugeschnitten sei. Oi, denke ich mir. Das ist eine reife Leistung vor dem Hintergrund, dass wir im Prinzip (ich muss mich korrigieren: tatsächlich) noch kein einziges Mal miteinander gesprochen haben. Ist mein Digital-Avatar 4.0 doch schon so aussagekräftig? Hammer!

Was dann folgt, ist so stereotyp wie das gesamte Vorspiel. Früher habe ich mich ein paarmal noch auf das gleichermaßen langwierige wie langweilige Gespräch und die Telefontermine auf der ersten und zweiten Sales-Ebene eingelassen. Yo, voll offen, Bro. Ich wurde durch einen uniformen Irrgarten aus verkaufsorientierten Fragen und Floskeln geführt, in dem echtes Interesse nicht vorgesehen ist. Auf Rückfragen gibt es keine Antworten, dafür neue Versprechen.

Im Briefing der armen Anbaggerer, die mit dürftigstem Material auf vermeintliches Neukundengeschäft losgelassen werden, um Leads (Zauberwort des 21. Jahrhunderts) zu generieren (2. Zauberwort des 21. Jahrhunderts), fehlt die Erfolgsformel (3. Zauberwort des 21. Jahrhunderts), so dass sie – neben den armen Schweinen am anderen Ende der Leitung – mit dem gesamten Vorhaben scheitern müssen. Sinnfrei verschwendete Zeit mit maximalem Körpereinsatz. Das zerstört wertvolle Motivationen, Hoffnung, menschliches Miteinander. Zurück bleibt Zynismus, der von Mal zu Mal tiefer Wurzeln schlägt. Lügen, leere Versprechen und Selbstbeschiss werden auf diese Weise salonfähig gemacht.

Was soll das?

Jetzt mal Hand aufs Herz: Bist Du wirklich so leicht zufriedenzustellen, liebe Datenkrake? Ich denke, Du bist so enorm künstlich intelligent? Eine Freundin sagt mir: Ne, ne, das verstehst Du falsch. So funktioniert Social eben. Du hast da einfach das falsche Mindset (4. Zauberwort des 21. Jahrhunderts). Achso? Ich bin erschüttert. Was könnte man mit Systemen wie LinkedIn, Facebook, Instagram et. al. nicht alles reissen, wenn es anspruchsvoller gehandhabt würde, konstruktiver, positiver, auf Nachhaltigkeit bedacht ... oder zumindest sachlicher, kompetenter. Wir haben doch alle keine Zeit zu verlieren! Wir graben uns stetig, aber tüchtig, mit diesem Quatsch selbst das Wasser ab. Was will man mit dem Gewinn dieses eiskalten kapitalistischen Abgreifens unserer Daten, wenn darüber parallel die Welt kaputt geht? Unsere Gehirne zerrütten?

Naja, ist alles nicht neu. Auch mein Gejaule nicht. Ich hab sie auch, meine Profile. Sichtbarkeit (5. Zauberwort des 21. Jahrhunderts) ist unverzichtbar. Klar, sag ich meinen Kunden auch. Aber ich finde, die Frage ist immer noch: Mit was will ich Geschäfte machen? Und wieviel Intelligenz – und Moral – bin ich bereit, dafür an den Nagel zu hängen?

Wie wär’s mal mit Zuhören?

Bin ich die Kundin, dann möchte ich ein Problem lösen, ein Bedürfnis befriedigen, einen echten Nutzen aus einer Ausgabe oder Investition ziehen können – ob ich einen 5-Liter-Kanister kaltgepresstes Olivenöl bestelle oder ob ich – mit Volldampf auf dem toten Gleis – einen Online-Workshop (X. Zauberwort des 21. Jahrhunderts) buche, der mir 6- bis 7-stellige Jahresumsätze verspricht (vorausgesetzt, mein Lizzard-Brain verhindert das nicht - dann bin ich natürlich selber schuld).

Worin ein Nutzen im Idealfall für mich liegt, weiß ich doch zunächst mal selbst auch schon ganz gut. Also die grobe Richtung. Fragt mich doch einfach. Ganz direkt. Ganz individuell. Und wenn Ihr mir dann tolle Ideen und Strategien anbietet, die mich in Echt weiterbringen - dann Dankeschön! Umso besser! Toller Service!

Wir wissen es ja eigentlich: Kommunikation ist alles. Und ohne Kommunikation ist alles nichts. Für mich – und alle anderen – aber bitte nur mit Qualität vor Quantität!

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Gnade vor Recht

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A year to live – Part 1